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Lean Management und Prozessexzellenz: Mehr als nur Methoden und Werkzeuge

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Lean Management und Prozessexzellenz: Mehr als nur Methoden und Werkzeuge

Ein Beitrag meines Kollegen Alex Horn, Alexander Horn ist selbständiger Unternehmensberater, Lean-Coach und Publizist. Mehr von ihm lesen Sie in seinem aktuellen Buch: „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“.

Prozessniveau und Fähigkeiten der Organisation müssen sich im Einklang entwickeln für den Erfolg von Lean Management und Prozessessexzellenz.

Vor mehr als zehn Jahren leitete Mike Rother mit seinem Buch „Die Kata des Weltmarkführers, Toyotas Erfolgsmethoden“ einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Lean Management ein. Zuvor bestand das westliche Lean-Verständnis darin, in den Lean Methoden einen fertigen Werkzeugkasten zu sehen, der darauf ausgerichtet ist, Probleme aller Art in den Unternehmensprozessen zu lösen. Jahrzehntelang hatten Experten die bei Toyota verwendeten Werkzeuge wie etwa Wertstromanalyse und -design, Kanban, 5S oder Poka-Yoke analysiert und zugänglich gemacht. Unternehmen nutzten diese oder adaptierten sie um ihren eigenen Werkzeugkasten zu entwickeln, schulten Führungskräfte und Mitarbeiter aller Ebenen darin und wendeten die erlernten Methoden mit einigem Erfolg in Workshops oder Verbesserungsprojekten an.

Im Gegensatz zu dieser Herangehensweise machte Rother deutlich, dass Unternehmen eine überlegene Wettbewerbsposition und Prozessexzellenz schwerlich erreichen können, wenn sie die bereits von anderen Unternehmen entwickelten Lean Management Methoden und Werkzeuge lediglich kopieren oder adaptieren. Hinzu kommt, dass die von anderen Unternehmen entwickelten Werkzeuge deren spezifische Probleme adressieren. Im eigenen Unternehmen treten diese Probleme jedoch möglicherweise gar nicht auf, so dass die Anwendung dieser Werkzeuge obsolet oder sogar kontraproduktiv sein kann.

Mit Fehlertransparenz zur Prozessexzellenz  –

Stattdessen, so Rother sollten Unternehmen in den Problemlösungsmodus wechseln, also ihre eigenen Prozessprobleme analysieren, verstehen und angehen. Denn Toyota nutzt die Lean Management Methoden und Werkzeuge nicht in erster Linie dazu, Prozessschwächen ein für alle Mal zu beseitigen. Vielmehr zielen sie primär darauf ab, die vorhandenen Prozessprobleme an die Oberfläche zu bringen, also transparent zu machen. Die Herstellung dieser Transparenz eröffnet die Chance, daran zu arbeiten und das Prozessniveau im Sinn eines größeren Kundennutzens anzuheben. Prozessexzellenz mit weniger Fehlern, kürzeren Durchlaufzeiten und weniger Verschwendung lässt sich dann erreichen.

Die erfolgreiche Anwendung der Lean Methoden und Werkzeuge führt demnach in der Praxis in erster Linie dazu, dass zuvor versteckte Prozessprobleme erkennbar werden, was die Chance eröffnet, diese Fehler mit geeigneten Lösungen zu überwinden. Geht es also beispielsweise darum den Prozessfluss mit Hilfe des Lean-Werkzeugkastens zu verbessern, so dass die Materialbestände sinken und sich die Durchlaufzeit verkürzt, so offenbart dieser verbesserte Prozess typischerweise eine Vielzahl zuvor nicht erkannter Probleme. Fehlt nun an einer der miteinander im Fluss verketteten Arbeitsstationen Material oder gibt es Montage- bzw. Qualitätsprobleme, so führt dies unmittelbar zu Störungen oder gar zum Stillstand einer kompletten Fertigungslinie.

Da bei der bisherigen Produktionsweise die einzelnen Fertigungsstationen durch dazwischenliegende Bestände entkoppelt waren, traten zwar die gleichen Mängel auf, aber sie hatten nur einen vergleichsweise geringen Effekt auf das Gesamtsystem. Denn trotz einer stillstehenden Arbeitsstation können nachfolgende Arbeitsstationen weiterproduzieren, wenn vor diesen Arbeitsstationen ausreichend Bestände liegen. Dann kommt also nur die von einem Problem betroffene Arbeitsstation zum Stillstand, während alle anderen Arbeitsstationen von diesen Problemen umso länger nicht tangiert sind, je höher die Materialbestände sind. Da nicht die gesamte Fertigungslinie zum Stillstand kommt, ist das Problem wegen der geringen Auswirkungen vergleichsweise unbedeutend und insofern weniger transparent.

In einem Produktionssystem, in dem die Prozessschritte durch Bestände weitgehend entkoppelt sind, ist eine wesentlich höhere Fehlertoleranz möglich. Denn zum Beispiel wiederkehrende Fehler bei der Materialbereitstellung, die zu wiederholten Montagestopps führen, können in einer Fließfertigung bei der das gesamte Montageband mit vielleicht 5 oder 50 Mitarbeitern stoppt nicht toleriert werden. Die Prozesse müssen so exzellent sein, dass diese Fehler sich nicht wiederholen können.

Lean Management und Prozessexzellenz: In den Problemlösungsmodus wechseln

Die Anwendung der Lean Methoden und Werkzeuge führt daher paradoxerweise dazu, dass die Organisation nicht etwa mit weniger Problemen konfrontiert ist, sondern mit mehr Problemen, die zudem adressiert werden müssen. Führungskräfte und Mitarbeiter sind nun zunehmend mit mehr oder weniger akuten und manchmal nicht ganz leicht zu lösenden Problemen konfrontiert, die zuvor meist leicht und zudem dauerhaft unter den Teppich gekehrt werden konnten.

Viele Lean Einführungen scheitern genau an dieser Schwierigkeit. Mitarbeitern und Führungskräften, die etwa im Rahmen eines Workshops die Prozesse selbst verändert haben, sind die Auswirkungen auf die Zeit nach dem Workshop oft nicht umfänglich klar. Die Prozessverbesserung hat beispielsweise zwar zu effektiven Durchlaufzeitreduzierungen oder Produktivitätsverbesserungen geführt, aber um den Preis neu auftauchender Probleme, die nun beherrscht und gelöst werden müssen. Kein Wunder also, dass die Unternehmen davor zurückschrecken, etwa die Bestände abzusenken oder die Durchlaufzeiten zu reduzieren und zudem an den Punkt kommen, wo sie an den Lean-Tools zweifeln und sie hinterfragen.

Um diese Herausforderungen zu meistern, die auf dem Weg zur Prozessexzellenz auf die gesamte Organisation zukommen, ist es notwendig in den Problemlösungsmodus zu wechseln. Es reicht nicht mehr, es einzelnen speziell dafür ausgebildete Spezialisten zu überlassen, die bei Anwendung der Lean-Prinzipien, -Methoden und Werkzeuge immer besser erkennbaren und oft akuten Prozessschwächen zu analysieren und zu lösen. Stattdessen müssen die Unternehmen eine Verbesserungskultur entwickeln, in der erkannte Fehler einerseits als Chance zur Verbesserung gesehen werden und andererseits die kontinuierliche Verbesserung zu einer zentralen Führungsaufgabe wird bei der möglichst alle Mitarbeiter einen Beitrag leisten. Führungskräfte aller Hierarchieebenen müssen sich in einem solchen Umfeld nicht nur selbst zu Problemlösern entwickeln, sondern auch zu Coaches heranreifen, die in der Lage sind, ihren Mitarbeiter diese Fähigkeiten zu vermitteln.

Lernen durch wissenschaftliches Experimentieren als Bestandteil von Lean Management und Prozessexzellenz

Um dies zu leisten wendet Toyota, wie auch andere erfolgreiche Lean-Unternehmen, die Methode des wissenschaftlichen Experimentierens an. Die gesamte Verbesserungskultur basiert auf der Anwendung der von dem US-amerikanischen Wirtschaftspionier William Edwards Deming entwickelten PDCA-Methode. Die Plan-Do-Check-Act Logik selbst funktioniert nach dem gleichen Prinzip, wie wir als Menschen lernen und ist daher nicht nur „natürlich“, sondern zudem universell auf jedes Problem anwendbar. Denn als Menschen machen wir – sofern wir irgendeine Herausforderung meistern oder ein Problem lösen wollen – einen Plan, setzen diesen um (Do) und sind hinterher mit dem Ergebnis konfrontiert (Check). Das Ergebnis stellt unser Wissen auf die Probe: Hat es funktioniert, so wird unser Wissen lediglich bestätigt, andernfalls stellen wir fest, dass unser Wissen noch unvollständig ist und wir können aus diesem Fehler lernen, indem wir versuchen Ursache und Wirkung besser zu verstehen. In jedem Fall werden wir uns das Ergebnis dieses Plan-Do-Check merken, also entweder abspeichern, dass das Experiment funktionierte (Act), oder weiter experimentieren (Act), bis wir das gewünschte Ergebnis erzielen und uns dies merken. Im Unterschied zu menschlichem Lernen sind Organisationen gezwungen ein kollektives Gedächtnis zu entwickeln, so dass sie auf dem bereits erworbenen Wissen aufbauen können. Dokumentationen wie etwa Arbeitsstandards spielen hierbei eine zentrale Rolle.

Anwendung des Lean Management Werkzeugkastens

Da die Anwendung des Lean Werkzeugkastens nicht einseitig dazu dient, Probleme endgültig zu lösen, sondern ständig neue Probleme virulent werden lässt, werden die Schwierigkeiten auf dem Weg zur Prozessexzellenz oft unterschätzt. Hinzu kommt, dass traditionelle Management-Systeme, die nicht auf dem Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung aufbauen, in der Regel nicht in der Lage sind, mit dieser Herausforderung geeignet umzugehen. Dies erklärt die oft großen Probleme bei der Einführung von Lean Management bis hin zur ausbleibenden Nachhaltigkeit. Um erfolgreich zu sein, ist die Veränderung der Führungskultur zentral. Führungskräfte müssen sich zu Problemlösern entwickeln und dieses Wissen als Coaches an ihre Mitarbeiter weitergeben. Die Nutzung der PDCA-Methode ist eine höchst geeignete Herangehensweise, um den Weg zur Prozessexzellenz und um den Wandel der Unternehmenskultur hin zur kontinuierlichen Verbesserung erfolgreich zu gestalten.

So gelingt es das Prozessniveau und die Fähigkeiten der Organisation im Einklang zu entwickeln. Durch wissenschaftliches Experimentieren entsteht neues Wissen und die Fähigkeiten der Prozessverbesserer wie auch deren Coaches entwickeln sich kontinuierlich weiter. Ein kontinuierlich steigendes Prozessniveau mit weniger Fehlern, geringeren Durchlaufzeiten und steigender Arbeitsproduktivität wird mit einer derart sich entwickelnden Mannschaft beherrschbar und hilft dem Unternehmen sich im Wettbewerb zu behaupten.

 

 

Kathrin Saheb